Schicksalsfrage des Kapitalismus

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ eine breite Debatte über Verteilungsfragen angestoßen.

Warum er mit seinen zentralen Thesen richtig liegt, erklärt der DGB-Wirtschaftsexperte Mehrdad Payandeh.

Verteilungsgerechtigkeit. Die jüngste Geschichte des modernen Kapitalismus ist eine Geschichte voller Krisen. Mal sind es Währungskrisen, mal Öl-, Wirtschafts-, Finanz- oder Bankenkrisen. Nichts scheint stabil zu sein. Doch in einem Punkt ist der Kapitalismus beständig – bei der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen. Das stellt der französische Star­ökonom Thomas Piketty in seinem beeindruckenden Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ fest. Er ist der Frage nachgegangen: Wie haben sich Reichtum und Einkommen seit der industriellen Revolution verteilt? Im Fokus hat er vor allem die Einkommens- und Vermögensentwicklung der oberen Einkommensgruppen. In einer enormen Fleißarbeit hat er Zahlen gesammelt, analysiert und eine „weltweite Datenbank der Spitzeneinkommen“ aufgebaut.

Sein historisches Werk legt die Mechanismen für die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen frei. Ungleichheit ist weder gottgegeben noch eine Voraussetzung für eine starke Wachstumsdynamik des kapitalistischen Systems. Ganz im Gegenteil – mit zunehmender ungleicher Verteilung tendiert der Kapitalismus zur Fehlallokation: Das Kapital stößt auf unzureichende Nachfrage und findet seinen Weg nicht zurück in die Realwirtschaft. Stattdessen landet es auf den Finanzmärkten. Die daraus resultierenden Finanzkrisen müssen mit Steuermitteln bekämpft werden.

Piketty zeigt, dass die Verteilungsfrage stets eine politische Frage war und bleibt. Sie wird auch durch politische Ereignisse bestimmt. So haben die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert enormes Vermögen vernichtet, in Folge dessen hat sich die Ungleichheit verringert. Im Kalten Krieg handelte die Politik anders als in den Jahren danach: Die rasch wachsenden Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer unterlagen einem anderen politischen Verteilungsregime als heute. In dieser Zeit schoben ihre Regierungen über hohe Steuern und kräftige Sozialsysteme viele Mittel von Reich zu Arm. Das sorgte für ein makroökonomisches Gleichgewicht. Das Gegenteil bewirkten seit den 1970er Jahren Steuerprivilegien für Reiche und die Liberalisierung der Finanzmärkte. Der Befund ist nicht überraschend – auch nicht für Deutschland. In den letzten zwei Dekaden hat die deutsche Politik mit einer steuerlichen Umverteilung regelrechte Reichtumspflege betrieben.

Ein weiteres Ergebnis von Pikettys Analysen ist, dass sich in den Industrieländern das Volkseinkommen zulasten der Arbeit und zugunsten des Kapitals entwickelt hat. Das zeigt die sinkende Lohnquote. Noch wichtiger als die schiefe Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital ist aber das zunehmende Gewicht der Einkommen aus Vermögen wie Zinsen, Dividenden oder Spekulationen. Die Folge ist: Vermögen wachsen seit Jahrzehnten schneller als die Volkswirtschaften der Welt. Die Vermögenden und Superreichen haben den Rest der Gesellschaft abgehängt. Heute ist die Ungleichheit in den Industrieländern wieder so groß wie Ende des 19. Jahrhunderts, lautet ein zentraler empirischer Befund von Piketty.

Seine Prognose für die Zukunft des Kapitalismus ist ein Appell an die Politik: Wenn wir den Kapitalismus nicht verändern, dann wird die Ungleichheit in diesem Jahrhundert weiter zunehmen, die soziale Mitte erodieren und der soziale Frieden zerstört werden. Ein vom Finanzmarkt getriebenes System entzieht sich immer stärker seine eigene ökonomische Grundlage und führt zwangsläufig zu noch heftigeren Krisen als bisher. Piketty belegt, dass der Kapitalismus aus sich heraus keinen befriedigenden Ausweg aus dieser bedrohlichen Entwicklung findet. Deshalb müssen die Staaten handeln – am besten gemeinsam.

Es ist höchste Zeit, politisch gegenzusteuern, auch hierzulande: Die Tendenz der sozialen Polarisierung von Einkommen und Vermögen muss nicht nur gestoppt, sondern rückgängig gemacht werden. Um die Einkommensungleichheit zu reduzieren, muss das Lohngefälle beseitigt werden. Der Arbeitsmarkt muss arbeitnehmerfreundlich reguliert, der Niedriglohnsektor ausgetrocknet und das Lohnniveau angehoben werden. Zudem müssen Arbeitnehmerhaushalte steuerlich entlastet und Spitzenverdiener stärker belastet werden. Um Vermögenskonzentration und -ungleichheit zu reduzieren, müssen Steuern auf Vermögen wieder eingeführt, Steuern auf große Erbschaften angehoben sowie Steuerflucht ausgeschlossen werden. Die Finanzmärkte müssen wirksam reguliert und von riskanten Finanzprodukten bereinigt werden. Der Kapitalismus muss neu programmiert und radikal umgebaut werden. Die Verteilungsfrage ist und bleibt deshalb die Schicksalsfrage des Kapitalismus.

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