St. Pauli Pastor stört sich an der Armut

Veranstaltungen erleben Teilnehmer oft unterschiedlich – besonders dann, wenn es zu Zwischenfällen kommt. Wolfgang Joithe beschreibt eine Diskussionsveranstaltung der GAL, die offenbar sprichwörtlich in die Hose ging. Auf Reaktionen sind wir gespannt,

St. Pauli Pastor stört sich an der Armut
(Von Wolfgang Joithe*)

Gestern lud die GAL um 19:30 Uhr zu einer Diskussionsveranstaltung „Reiches Hamburg – arme Hamburger – Mit Grundeinkommen aus der Krise?“ in die St. Pauli-Kirche am Hein-Köllisch-Platz ein. Podiumsgäste: Anja Hayduk (MdB), Thies Hagge (Arche Jenfeld) und Rolf Steil, Geschäftsführer der Arbeitsagentur Hamburg.

Rolf Steil forderte im Januar 2007 die Absenkung des Arbeitslosengeld II („50% oder zwei Drittel“) für diejenigen, die nicht „arbeitswillig“ seien. Steil will die Arbeitspflicht wieder einführen, um den Niedrigstlohnsektor weiter anzukurbeln. Wer Armut säht, gilt bei der GAL also als „Armutsexperte“ (Hayduk). Das ist konsequent gedacht.

Schon vor der Kirche eine Ansammlung der Armen mit einem Transparent gegen Ein-Euro-Zwangs-Jobs. Flugblätter werden verteilt, die den „Armutsexperten“ näher vorstellen. Um 19:30 Uhr begrüßt Pastor Sieghard Wilm die ca. 50 Gäste. St. Pauli sei eine offene Kirche und er freue sich, dass diese Veranstaltung in seinem Hause stattfinde. Pastor Wilm: „Ich bin verliebt in das Gelingen“. Das wird er noch unter Beweis stellen.

Dann die Podiumsdiskussion. Viele Worthülsen – wenig Gehaltvolles. Anja Hayduk streift professionell die Mitverantwortung ihrer Partei für die Hartz-Gesetze. Highlight: „Wir sind für einen gesetzlichen Mindestlohn“ (sic!). Höhe wird noch diskutiert. Thies Hagge von der „Arche“ freut sich darüber, dass er einen Ein-Euro-Zwangs-Jobber als Hausmeister hat und damit „wieder eingliedert“. Natürlich zusätzlich – vor der Einführung der Zwangsjobs gab es die Arche ja nicht. Steil sondert Zahlen und Sozialrassismus ab: „Konjunkturaufschwung für die Fittesten, Stärksten, Qualifiziertesten“ Das eigentliche Thema „Grundeinkommen“ wird nur am Rande gestreift. Die Grünen diskutieren darüber noch intern.

Endlich kommt ein „Armer“ zu Wort, der dem Chef der Arbeitsagentur in Hamburg die Leviten liest – man ist ja schließlich in der Kirche, auch wenn dies eine politische Veranstaltung ist. Die Leute vom Sozialforum Eimsbüttel rollen ihr Transparent wieder aus. Der Pastor greift ein. Das Transparent stört ihn mehr, als der Beelzebub der Armut (Rolf Steil) auf dem Podium. So etwas nennt man Realitätsverlust.

Nach kurzer Zeit wird das Transparent wieder eingerollt. Aber irgendwie will es nicht weitergehen. Angeblich hat der Pastor um eine „Minute der Einkehr“ gebeten. Einige verlassen die Kirche. Draußen ein Kordon von acht Blau-Uniformierten, die den Ausgang abriegeln. Vorher hatte man schon Zivilbeamte im Kirchenschiff bemerkt. Pastor Wilm stellt Anzeige wegen Hausfriedensbruch, zieht dann zurück. Trotzdem Feststellung der Personalien von drei Personen wegen einer „nicht angemeldeten Demonstration“.

Zum geplanten „Get together“ um 21:15 Uhr kommt es nicht mehr.

Verliebt in das Gelingen. Möge nur die Zahl derer steigen, die dazu beitragen. Gestern kam die Realität der Armut in die Kirche zu Pastor Wilm, der damit überfordert war. Mildtätigkeit ja – aber darf Armut sich wehren? Sie muss und wird – das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

* Wolfgang Joithe ist Mitbegründer von „PeNG! Aktive Erwerbslose und Geringverdiener“, Hamburg

Über PeNG!

Wer sind wir?
Wir sind eine Gruppe von Frauen und Männern (auch erwerbstätige), die sich Anfang 2005 zusammengefunden haben.

Was wollen wir?
Wir setzen uns aktiv mit dem Sozialabbau in Deutschland auseinander. Wir pflegen die gegenseitige Hilfe (Ämterbegleitung, Widersprüche, Klagen beim Sozialgericht etc.), sind auf Stadtteilfesten mit Informationsständen und -material vertreten und betreiben eine Internetplattform speziell für den Hamburger Raum.

Wir wollen durch Informationen und Aktionen auf die Situation der von Armut Betroffenen und Bedrohten aufmerksam machen. Die Handlungsweisen der Behörden sowie der Beschäftigungsträger beobachten wir kritisch, um Missstände aufzudecken, öffentlich zu machen sowie zu helfen, gerichtlich dagegen vorzugehen. Zu diesem Zweck arbeiten wir eng mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zusammen und sind gewerkschafts- und parteipolitisch unabhängig.

Wir halten es für unabdingbar, dass sich die Kräfte der verschiedenen Gruppierungen gegen den Sozialabbau bündeln. Nach unserer Überzeugung sind wir nur gemeinsam stark!

Wen sprechen wir an?
Wir wenden uns an alle Interessierten, insbesondere Erwerbslose und Geringverdiener – aber auch an diejenigen Erwerbstätigen, die erkannt haben, dass der Sozialabbau auch sie bedroht.

Eine aktive Teilnahme ist erwünscht.

PeNG! Aktive Erwerbslose und Geringverdiener
Kontakt@peng-ev.de
www.peng-ev.de

3 Gedanken zu „St. Pauli Pastor stört sich an der Armut“

  1. Entscheidend für den sozio-politischen Erfolg ist die Fähigkeit, mit den Instrumenten der Selbsthilfe die Mitbürger in den Stand zu versetzen, für den eigenen Unterhalt so weit wie irgendmöglich selbst zu agieren.

    Dieser Aspekt ermöglicht die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls, des Selbstvertrauens und der individuellen Würde.

    Dass hierfür u.a. Mikrokreditsysteme organisiert, Gründungsselbsthilfekreise geschaffen und genossenschaftliche / assoziative Gründungen befördert werden müssen sollte aus der Lethargie der „Armen“ auf den Philippinen gelernt werden können.

    Alle politische Agitation & Propaganda ist zum Scheitern verurteilt, wie uns die Geschichte der verangenen 100 Jahre lehren kann.

    Vamos – aber nicht a la playa.
    Vamos a la trabajo!

  2. @Kabur Kabari

    „Hilfe zur Selbsthilfe“, eine neoliberale Idee, die weitestgehend gescheitert ist.

    Mit solchen Sprüchen ist einer allein erziehenden Mutter mit 3 Kindern, die jeden Tag darum kämpfen muss, was halbwegs gesundes und schmackhaftes auf den Tisch zu bringen leider nicht geholfen, das ist nämlich schwer mit rund 2 € pro Kind und Tag.

    Aber mit solch profanen Realitäten beschäftigt sich ein grüner Besserverdienender ja eher selten.

  3. Dass wir unsere Leben nicht in uniformen Erscheinungen , Situationen und Abhängigkeiten leben, kann ich jedes mal sehen, wenn ich auf dem großen Müllberg bei Manila die Menschen sehe, die dort vom und auf dem Müll „der Besitzenden“ leben.

    Dass Hartz IV in der Wirklichkeit staatlich organisierter Kindesmissbruch ist, ist offenkundig und wird von mir lautstark geäußert.

    Dass Fernseh- und Computerspielunterhaltung, Sonnenbänke, Convenice food, Mac Donalds usw. die gesellschaftliche Form von Besitz- und Verantwortungsmissbrauch sind, die lediglich der psychischen und physischen Ausschlachtung von vielen Millonen Mitmenschen in Deutschland sind, das scheint aber der Erklärung zu bedürften. Speziell sind hier die Menschen anzusprechen, die sich diesem Missbrauch in einer gewissen Form von Selbstunbewusstsein und Suchtverhalten sehr stark selbst ausliefern.

    Diese Fakten, die als Ursachen für Hartz IV, Kinder- und Alleinerziehendenverelendung zu bewerten sind, müssen in der Debatte aber auch benannt werden. Ansonsten kreisen wir immer um das Problem herum.

    Die Freiheit von CDU, CSU, FDP, weiten Teilen der SPD und inzwischen auch von Bündnis90/Die Grünen ist die unbeschränkte und zügellose Freiheit des Besitzbürgertums, das sich die Ausschlachtung der Mehrheitsbevölkerung als eines ihrer Grundrechte definiert hat.

    Und hier stelle ich mich – symbolisch nur – auf den Müllberg von Manila und beginne meinen Widerstand zu leisten. Widerstand gegen die Schlachter, nicht Widerstand gegen die Schlachtopfer.

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