Gastbeitrag von Wolfgang Rose im Hamburger Abendblatt zur Debatte um den Streik der GdL und das Tarifeinheitsgesetz
Im Hamburger Abendblatt ist heute eine persönliche Stellungnahme des SPD-Bürgerschaftsabgeordneten und ehemaligen ver.di-Landesleiters Wolfgang zur Debatte um den Streik der GdL und das Tarifeinheitsgesetz in leicht gekürzter Fassung erschienen.
Die ungekürzte Fassung lesen Sie hier:
„Nur gemeinsam sind wir stark“ – das ist die Grundidee und Grunderfahrung, aus der die Gewerkschaften entstanden sind. Als einzelne Arbeitnehmerin, als einzelner Arbeitnehmer ist man dem Arbeitgeber strukturell unterlegen und in aller Regel weitgehend machtlos. Erst der Zusammenschluss, die gemeinsame Formulierung von Interessen und Zielen, und die gemeinsame Aktion zu deren Durchsetzung erzeugen die Stärke, mit der die Arbeitnehmer/innen den Arbeitgebern auf Augenhöhe begegnen und ihre Interessen wirksam vertreten können – ob im einzelnen Betrieb, in einer ganzen Branche oder auch in der gesamten Gesellschaft bei übergeordneten Interessenkonflikten zwischen Arbeit und Kapital.
Diese gewerkschaftliche Grundidee ist untrennbar verknüpft mit dem Grundwert der Solidarität: Keiner bleibt allein gelassen, schon gar nicht im Konflikt mit einem übermächtigen Gegner wie dem Arbeitgeber. Und ganz entscheidend: Die Stärkeren helfen den Schwächeren, beide halten zusammen. Und eben nicht: Die Stärkeren nutzen ihre Stärke, die zum Beispiel aus einer privilegierten Stellung oder besonderen Funktion resultiert, nur für ihre eigenen Interessen aus, im Zweifel zulasten der Schwächeren.
So verstandene Solidarität wollen wir – die aus der Arbeiterbewegung entstandenen und in ihr verwurzelten Gewerkschaften und Parteien – als Grundprinzip der Gesellschaft als Ganzes verwirklichen. Das beinhaltet und setzt voraus, dass wir es zuallererst bei uns selbst verwirklichen, innerhalb der Arbeitnehmer/innen/schaft und ihrer, unserer Organisationen und Kämpfe. Das bedeutet konkret, dass eben nicht jede Berufsgruppe für sich ihre eigene kleine Gewerkschaft gründet und nur für sich selbst kämpft, sondern dass sich alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines Betriebes und einer Branche in gemeinsamen Gewerkschaften zusammenschließen und gemeinsam ihre Interessen definieren und durchsetzen – und zwar gerade auch die von der Qualifikation, von der Stellung und/oder der Funktion her Stärkeren und Schwächeren gemeinsam.
Darauf basiert das Prinzip der Einheitsgewerkschaft und der Tarifeinheit: Auf dem Willen zur Solidarität auch über Status- und Machtdifferenzen hinweg, auf der Erfahrung, nur gemeinsam wirklich stark zu sein, auf dem Wissen, dass Konkurrenz untereinander die Arbeitnehmer/innen-Seite immer schwächt und den gemeinsamen Interessen schadet, und auch auf der Erkenntnis, dass die verschiedenen Arbeiten innerhalb eines Betriebes trotz Funktions- und Status-Hierarchien in Wahrheit nicht zu trennen sind: Die Wertschöpfung eines Betriebes und auch die Erfüllung des Betriebszweckes sind Ergebnisse des Zusammenwirkens der Gesamtbelegschaft: Kein Pilot von Cockpit, kein Krankenhausarzt vom Marburger Bund und auch kein Lokführer der GdL kann seine Arbeit ohne die Kolleginnen und Kollegen der anderen Berufsgruppen in seinem Betrieb erledigen.
Spartengewerkschaften von Angehörigen bestimmter Funktionseliten und ihre Kämpfe für die jeweiligen engen berufsständischen Eigeninteressen laufen dem Solidaritätsprinzip zuwider. Durch das Schüren von Konkurrenz innerhalb der Arbeitnehmer/innen schwächen sie deren Position insgesamt. Der gemeinsame Tarifvertrag und das Grundrecht auf Tarifautonomie sind hingegen darauf ausgerichtet, die Konkurrenz untereinander zu überwinden. Deshalb ist das Prinzip: „Ein Betrieb – eine Branche – ein Tarifvertrag“, also die Tarifeinheit, so fundamental.
Der GdL scheint dies aktuell durchaus bewusst zu sein. Deshalb legt sie so viel Wert darauf, auch für die anderen Berufsgruppen innerhalb der Deutschen Bahn verhandeln zu dürfen, um das Image der egoistischen Einzelinteressenvertreter loszuwerden und den Anschein von Solidarität zu erwecken. Doch indem sie dies gegen die bestehende, weitaus größere DGB-Gewerkschaft EVG in einem brachialen Verdrängungswettkampf durchsetzen wollen, ist ihr Streik in Wahrheit ein Akt der Entsolidarisierung. Denn auch wenn Angehörige anderer Berufsgruppen nun in die GdL eintreten sollten, so wären sie dort noch lange nicht gleichberechtigt mit den tonangebenden Lokführern.
Das Recht zum organisierten Zusammenschluss (Koalitionsfreiheit), zur autonomen – d.h. nicht vom Staat gegängelten – Aushandlung von Tarifverträgen (Tarifautonomie), und zur gemeinsamen Aktion bis hin zum Streik (Streikrecht) ist uns seit 1949 im Grundgesetz garantiert – ein gewaltiger zivilisatorischer und demokratischer Fortschritt, der aus der Überzeugung resultiert, dass es zu einer gelingenden sozialen Marktwirtschaft unverzichtbar dazugehört, dass die unter kapitalistischen Verhältnissen strukturell unterlegene Arbeitnehmer/innen/seite die legitimen Mittel zugestanden bekommt, um ein annäherndes Kampfgleichgewicht im Interessenkonflikt herstellen zu können. Mit anderen Worten: Der Geist hinter den Grundrechten unserer Verfassung ist Solidarität, nicht Konkurrenz, Gemeinsamkeit statt Spaltung, Überwindung hierarchischer Unterschiede anstelle ihrer organisatorischen Verfestigung. Der Geist der Grundrechte ist der Geist der Tarifeinheit.
Dennoch: Niemand kann oder will die Gründung von Konkurrenz- und Spartengewerkschaften verbieten. Sie sind – wenn nicht vom Geist, so aber vom Buchstaben – des Grundgesetzes gedeckt, einschließlich ihres Rechts auf Arbeitskämpfe und Streiks. Gleichwohl ist es richtig, legitim und dem Geist und Buchstaben der Tarifautonomie entsprechend, was die Bundesregierung aktuell vorbereitet: Die Klarstellung, dass innerhalb von Branchen und Berufsgruppen nicht diverse unterschiedliche Tarifverträge nebeneinander gelten können und sollen. Damit stärkt die Bundesregierung die Kampf- und Verhandlungsposition der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, indem sie deren Schwächung durch Zersplitterung und unsolidarische Konkurrenz zumindest begrenzt – so, wie es der solidarischen Idee der Grundrechte Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Streikrecht entspricht.