Mitbestimmung: Legaler Rückzug

Immer mehr Unternehmen verabschieden sich von der Mitbestimmung. Oft sind dabei ihre Methoden legal, weil es Gesetzeslücken gibt. Die Mitbestimmungsexperten der Hans-Böckler-Stiftung, Norbert Kluge und Sebastian Sick, ziehen im DGB-Infoservice einblick eine erschreckende Bilanz.

Ende 2015 gab es 635 paritätisch mitbestimmte Unternehmen und etwa 1500 drittelbeteiligte Unternehmen. Die Anzahl der mitbestimmten Unternehmen geht langsam aber stetig zurück. Der Grund: Es kommen kaum neue Unternehmen hinzu, weil sie sich anders und ohne Mitbestimmung aufstellen können. Schleichend blutet die Mitbestimmung dadurch aus. Es ist einfach, die Mitbestimmung zu umgehen, und die deutsche Gesetzgebung hilft den Unternehmen. Ganz legal wird ArbeitnehmerInnen ihr Mitbestimmungsrecht auch in großen und bekannten Unternehmen verweigert. Die Firmen kombinieren einzelne Elemente des deutschen Gesellschaftsrechts. Insgesamt wird durch unterschiedliche Vermeidungsstrategien nahezu eine Million ArbeitnehmerInnen um ihre Vertretung durch einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat gebracht.

Skandalös sind diese Strategien besonders im Einzelhandel. Hier vermeiden die meisten Firmen Mitbestimmungsstandards. Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten unterliegen der paritätischen Mitbestimmung. Doch die überwiegende Zahl ist mitbestimmungsfrei. Hier geht es nicht mehr um Ausnahmen. Allein in 21 Einzelhandelskonzernen werden fast 400000 ArbeitnehmerInnen von der unternehmerischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Unter anderem zählen hierzu ALDI, Norma, EDEKA, Schwarz-Gruppe (Lidl/Kaufland), Netto, C&A, H&M, Primark, ZARA, Müller Drogeriemärkte, BAUHAUS, ZALANDO und DEICHMANN.

Eine Studie der Universität Jena belegt, dass nicht einmal die Hälfte der zur Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat verpflichteten Unternehmen in der Größenklasse von 500 bis 2000 Beschäftigte seiner gesetzlichen Pflicht nachkommt. Das geltende deutsche Recht ist eindeutig: Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten müssen die Mitbestimmungsgesetze anwenden.

Ungemach droht derzeit wieder einmal von den ideologischen Feinden der Mitbestimmung. Sie haben es geschafft, ihr Anliegen bis zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu bringen. Er muss jetzt entscheiden, ob die deutsche Unternehmensmitbestimmung mit EU-Recht kompatibel ist, nachdem ein TUI-Kleinaktionär gegen die Regeln zur Aufsichtsratswahl geklagt hatte. Die Klage ist nicht der erste Versuch von Gegnern der Mitbestimmung, die Rechte der ArbeitnehmerInnen in Deutschland via Europa auszuhebeln. Anders als das immer mal wieder vernehmbare Lob der Mitbestimmung auch aus Wirtschaftskreisen vermuten lässt, haben große Teile der Wirtschaftselite in Deutschland offenbar bis heute keinen Frieden mit ihr gemacht. Die Gegner der Mitbestimmung können bislang dem langsamen Ausbluten der Mitbestimmung einfach zuschauen. Sie wollen keine positiven Anpassungen der Mitbestimmungsgesetze.

Deshalb haben der DGB und die Gewerkschaften die „Offensive Mitbestimmung“ initiiert. Der Strategie, die Mitbestimmung zu vermeiden, gehört rechtlich ein Riegel vorgeschoben. Die Gewerkschaften haben die Bundesregierung aufgefordert, durch gezielte Gesetzesmaßnahmen noch in dieser Legislaturperiode zunächst die Lücken in der nationalen Gesetzgebung zu schließen. Einige der Probleme könnte der deutsche Gesetzgeber leicht lösen. Kein Unternehmen soll durch geschickte Wahl der Rechtsform und Nutzung des europäischen Rechts seine Beschäftigten um ihre Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat bringen dürfen. Wer diese Form der Flucht vor der Mitbestimmung wählt, will sich nicht (mehr) an dem Ringen nach der besten gemeinsamen Lösung beteiligen. Flucht vor Mitbestimmung ist das bewusste Zementieren alter Machthierarchien.

Die Politik muss jetzt aktiv werden. In der Bevölkerung kann sie auf Zustimmung zur Mitbestimmung bauen. Es geht um die bessere Unternehmensführung für das nachhaltige Unternehmen, mit Perspektiven für gute Arbeit. Wer jetzt nicht aktiv wird, der verliert den „Standortvorteil Mitbestimmung“. Die deutsche Politik kann eine Vorreiterrolle spielen, damit die rasanten Umbrüche in der Arbeits- und Wirtschaftswelt sowie in Demokratie und Gesellschaft insgesamt nicht aus dem Ruder laufen. Mitbestimmung ist ein Zukunftsthema. Ihr Ausbau steht auf der politischen Agenda. Sie hat sich in mehr als 40 Jahren als demokratisches Gestaltungsprinzip der Sozialen Marktwirtschaft bewährt.

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Der Gesetzgeber hat viele Möglichkeiten, der Mitbestimmung Geltung zu verschaffen. Nach Ansicht der Stiftungsexperten ist der gesetzgeberische Aufwand eher gering.

So müsste im Drittelbeteiligungsgesetz die Konzernregelung analog des Mitbestimmungsgesetzes eingeführt werden. Alle ArbeitnehmerInnen müssen dem herrschenden Unternehmen zugerechnet werden. Klarstellung ist bei der Rechtsform GmbH & Co. KG notwendig, sie sollte in das Drittelbeteiligungsgesetz aufgenommen werden.

Ebenso wichtig wäre es, auszuschließen, dass die Wahl einer ausländischen Rechtsform die Mitbestimmung aushebeln kann. Es gilt sicherzustellen, dass alle Unternehmen ab 500 Beschäftigten die Mitbestimmungsgesetze anwenden müssen.

Im Beteiligungsgesetz der Europäischen Gesellschaft (SE) muss klargestellt werden, dass die Anzahl der Beschäftigten in Deutschland entscheidend ist und bei entsprechenden Veränderungen eine Beteiligungsvereinbarung neu verhandelt werden muss. Orientierung für die Mitbestimmung sind die deutschen Schwellenwerte von 500/1000/2000.

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