Die Verteidigung des europäischen Projektes

In seiner größten Krise schwingen sich nicht viele zu Verteidigern Europas auf. Im Gegenteil: Manche Regionen pochen darauf, dass sie eigentlich wohlhabend sind, proben die Abspaltung von ihren Staaten. „Die Wohlstands-Aufstände sind gefährlich für Europa“, sagt der Kölner Politologie-Prof. Dr. André Kaiser. Das ganze Interview:

„Europa sieht sich nicht als Schicksalsgemeinschaft“, warnt Kaiser in der Landeszeitung Lüneburg:

Die Lombardei gegen Sizilien, Flandern gegen Wallonien, Südengland gegen Nordengland, auch Bayern will nicht mehr so viel für Bremen zahlen: Erlebt Europa einen Aufstand der wohlhabenden Regionen?

Prof. André Kaiser: Zum Ersten muss man ganz grundsätzlich konstatieren, dass wir zurzeit allgemeine Entsolidarisierungsprozesse erleben. Die Bereitschaft der Bürger, anderen zu helfen, sinkt. Einzige Ausnahme von diesem Trend ist die nach wie vor ungebrochene Bereitschaft, zu spenden – etwa nach Naturkatastrophen. Werden die Bürger emotional berührt, verhalten sie sich solidarisch. Die Bereitschaft sinkt aber, wenn staatliche Institutionen diese Solidarität einfordern. Zum Zweiten muss man den Befund „Aufstand der Wohlhabenden“ noch differenzieren: Er ist vor allem festzustellen in Gesellschaften, die noch keine Identität ausgebildet haben. Innerhalb Deutschlands ist die Bereitschaft zur Solidarität deshalb höher als über Ländergrenzen hinweg. Extrem gering ist die Bereitschaft gegenüber Europa, weil noch keine kollektive europäische Identität ausgebildet wurde.

Führt diese fehlende kollektive Identität dazu, dass die Ära des übernationalen Zusammenwachsens in Europa bereits wieder vorbei ist?

Prof. Kaiser: Ja, sie ist schon wieder vorbei. Der Hauptgrund ist der Wegfall des ursprünglichen Motivs. Das europäische Projekt wurde angeschoben vor dem Hintergrund einer gesamteuropäischen Katastrophenerfahrung – dem Zweiten Weltkrieg. Die Nationen wollten kollektive Sicherheit herstellen. Mittlerweile sieht sich Europa klassischer militärischer Bedrohung aber nicht mehr wie bisher regional gegenüber, sondern weltweit. Zudem ist die Gefährdung durch Terror größer als die durch klassische Kriege. Und hier ist schwer zu erkennen, inwiefern die EU eine Antwort liefern könnte. Damit entfiel ein starker Antrieb für die Integration. Dennoch geht die Integration immer weiter. EineEURVielzahlEURvon Kompetenzen und Entscheidungsprozessen, die bisher auf nationalstaatlicher Ebene angesiedelt waren, gehen über auf die europäische Ebene – stärker, als in den Verträgen vorgesehen. Diese Integration wurde nicht von einer kollektiven Identitätsbildung der europäischen Gesellschaft begleitet. Das ist der Grund, warum das europäische Projekt an seine Grenzen gestoßen ist.

Wenn Katalonien nicht mal bereit ist, sein Geld mit Andalusien zu teilen, ist dann die Idee eines Wohlstandstransfers nach Sizilien nur noch ein Eliten-Projekt?

Prof. Kaiser: Europa war immer ein Eliten-Projekt, weil den Bürgern schwer zu vermitteln war, was genau hinter europäischen Entscheidungen steht. Der Grund liegt auch darin, dass es keine wirkliche europäische Gesellschaft gibt mit einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Medien, einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit. Peter Graf Kielmansegg hat dies schön formuliert: „Europa ist keine Schicksalsgemeinschaft.“ Der Zusammenbruch der Zivilisation im Zweiten Weltkrieg hat dieses Momentum hineingebracht, das den anfänglichen Erfolg des Integrationsprozesses bewirkte. Aber dieser Impuls verflog.

Schicksalsgemeinschaft war Europa auch noch im Kalten Krieg. So lange schwelte der keltisch-angelsächsische Gegensatz zwischen Schotten und Engländern unterschwellig. Brauchte es das Ende des ideologischen Ost-West-Gegensatzes, um nationale Grenzen ins Wanken zu bringen?

Prof. Kaiser: Nein. Die Herausbildung einer eigenständigen schottischen Identität reicht weit in die Geschichte zurück. Die politische Mobilisierung dieser Identität – mit den Konsequenzen: eigenes Parlament, eigene Regierung und nun sogar der Option einer Abspaltung – begann in den 1970er-Jahren. Sie wurzelt in der Deindustrialisierung Schottlands und wurde emotional massiv aufgeladen in der Ära Thatcher. Diese Regierung konnte in Schottland zeitweilig keinen einzigen Wahlkreis gewinnen, verfügte also über keinen wirklichen politischen Rückhalt. Dennoch sorgten die Kabinette Thatcher in dieser Region unbeirrt für einen Kahlschlag bei den Jobs. In dieser Zeit, also lange vor Ende des Kalten Krieges, begannen die Wahlerfolge der schottischen Nationalisten. Hier haben wir also den Sonderfall, dass nicht die sprudelnden Einnahmen aus dem Nordsee-Öl die Ablösungstendenzen bestärkten, sondern der relative Niedergang gegenüber dem wohlhabenden Süden Großbritanniens.

Steigt in einem supranationalen Gebilde das Bedürfnis, sich kleineren, identitätsstiftenden Einheiten zugehörig zu fühlen?

Prof. Kaiser: Ich denke, das ist ein Motiv, das die Sozialwissenschaften lange nicht ernst genommen haben. Es herrschte lange die Vorstellung, dass durch den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess die emotionale Unterfütterung einer kollektiven Identität überflüssig würde, weil der Individualisierungstrend stärker wäre. Nun ist interessant, dass sich gerade in wirtschaftlich erfolgreichen Regionen ein solches Identitätsgefühl ausbildet.

Schlägt das Pendel zurück: Weil Politiker das Verbindende betonen, klammern sich die Bürger an das Trennende?

Prof. Kaiser: Nun, das machen Politiker kaum noch. Sie sehen ja auch, wie sich die Einstellungen ändern. Weil Europa bereits negative Gefühle hervorruft, werden bei der Frage, inwieweit man Griechenland hilft, zweckrationale Argumente ins Feld geführt, etwa: Das seien unsere Exportmärkte. Da wird nicht mehr Solidarität beschworen, sondern die Verfolgung von Eigeninteressen.

Was unterscheidet den Freiheitsdrang der Südtiroler von dem der Kurden?

Prof. Kaiser: Das Kurden-Problem ist gänzlich anders gelagert als die Minderheitenprobleme in Europa. Seit Kemal Atatürk steht es auf der Tagesordnung, seit alle anderen ethnischen Minderheiten aus der Türkei verschwunden sind – auf unterschiedlichen Wegen. Erst in allerjüngster Zeit ist eine gewisse Akzeptanz der kulturellen Identität der Kurden festzustellen, aber ihre politische Vertretung ist durchgängig abgelehnt worden. Unter demokratischen Bedingungen geht das so nicht. Hier muss man die Selbstbestimmungsambitionen ethnischer Minderheiten mit politischen Mitspracherechten befrieden. Regionen, die sich als besonders wahrnehmen – im spanischen Beispiel etwa Katalonien, Galizien und das Baskenland – achten eifersüchtig darauf, mehr Rechte zu erhalten als die anderen Regionen. Es kommt zu einem Aufschaukelungsprozess, der immer mehr in Richtung Verlagerung der Kompetenzen und Ressourcen von der nationalstaatlichen Ebene auf die Regionen gekennzeichnet ist. Und wenn es dann in diesen Regionen noch zusätzlich einen Wettbewerb zwischen Parteien gibt, wer die Minderheit vertreten darf, gibt oft die radikalste Partei den Ton an. So erleben wir es jetzt in Katalonien, wo die moderate Regierungspartei durch eine linke, sezessionistische Partei herausgefordert wird, sich anpasst und ebenfalls ein sezessionistisches Referendum fordert. Allerdings ohne Erfolg: Die Wähler honorierten das Original.

Wie passt das Baskenland in dieses Bild? Erwägt die ETA die Selbstauflösung, weil die anderen Parteien ihre Programmatik übernommen haben?

Prof. Kaiser: Zunächst haben wir hier auch ethnischen Wettbewerb zwischen der dominierenden baskischen nationalistischen Partei (PNV) und radikalen linken Gegnern. Anders als in Katalonien haben letztere aber einen militärischen Flügel, dessen bekannteste Gruppe die ETA ist. Dass in diesem Fall die moderate Kraft der PNV die Oberhand behalten hat, liegt vermutlich daran, dass Terrorismus von der Mehrheit der Basken abgelehnt wird. Dass die ETA nun vor der Selbstauflösung steht, liegt an einer geschickten, kombinierten Politik: Einerseits Zugeständnisse an das Baskenland, das – anders als Katalonien – sogar eigene Steuern erheben darf. Andererseits eine intensive Bekämpfung der ETA durch die Sicherheitsorgane.

Gibt es Schnittmengen zwischen den regionalen Nationalismen in Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien etc. und populistischem Nationalismus?

Prof. Kaiser: Es fällt mir schwer, Schnittmengen zu finden zwischen den berechtigten Forderungen regional konzentrierter, ethnischer Minderheiten und einem Nationalismus, der Selbstbestimmungsrechte nur als vorgeschobenes Argument benutzt. Man kann nicht im Ernst die Ziele der Lega Nord oder der Vlaams Belang mit denen der katalanischen Regierungspartei CiU oder der Schottischen Nationalpartei SNP vergleichen.

Birgt das Konzept einer Kulturnation, die sich über Sprache und Geschichte definiert, nicht die Gefahr, dass es Einfallstor für Bündnisse mit traditionellen Nationalisten sein kann?

Prof. Kaiser: Die Gefahr besteht immer. Aber die nationalistischen Parteien etwa in Spanien und Schottland sind aufgeklärte Parteien, die nicht mit der traditionellen Identifikationsfigur der Kulturnation argumentieren. So ist die schottische Identität nur in Randbereichen – wie etwa Fußball – eine kulturelle. Hauptsächlich versteht sie sich als politisches Gegenprojekt zum neoliberalen Abbau des Staates. Im Falle der Lega Nord und der Flämischen Separatisten geht es nur um Wohlstands-Chauvinismus.

Entlarvt der Aufstand der wohlhabenden Regionen die Dürftigkeit einer EU-Legitimation ausschließlich über Wohlstand?

Prof. Kaiser: Eindeutig ja. In der Tat ist das europäische Projekt bisher vorrangig legitimiert worden über Leistungen wie einen wachsenden Binnenmarkt und steigenden Wohlstand. Fritz Scharpf, ein wichtiger deutscher Politikwissenschaftler, nennt das Output-Legitimität. Diese ist an die Stelle dessen getreten, was Demokratien üblicherweise legitimiert, nämlich der Input, also den Präferenzen, die Bürger in das System einspeisen, den Einfluss, den sie etwa über Wahlen auf ihre Repräsentanten nehmen. Letzteres ist in der EU nur ganz begrenzt und vermittelt möglich. Und ich kann nicht sehen, wie wir dieses Legitimationsdefizit in den Griff bekommen können, ohne den nächsten Schritt zu gehen, also ein föderales System zu schaffen. Das aber würde nur funktionieren, wenn sich die Bürger als Schicksalsgemeinschaft verstehen würden.

Wie gefährlich ist das fehlende Schicksalsgemeinschaftsgefühl für Europa?

Prof. Kaiser: Ich vermute, dass die Zahl der EU-Gegner steigt. Die Verteidigung des europäischen Projektes wird nur in dem Maße gelingen, in dem man den Bürgern vermitteln kann, warum bestimmte Kompetenzen besser auf der europäischen Ebene angesiedelt sind. Zudem müsste man das jetzige Maß an Integration zurückschrauben. Ein Beispiel ist der Europäische Gerichtshof, der längst nicht mehr nur über die europäischen Verträge wacht, sondern aggressiv Europas Primat durchsetzen will. Warum aber soll es nicht möglich sein, dass einzelne Staaten strategische Aktienanteile an wichtigen Unternehmen halten, wie etwa im Falle VW? Das Eingreifen des EuGH in diesem Falle schadete dem Integrationsprojekt. Dass das europäische Projekt langfristig auf dem bisherigen Weg verwirklicht wird, ist eine Hoffnung, die man aufgeben muss.

Das Interview führte Joachim Zießler

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