Ausnahmslos verfassungsfest

Verfassungsrechtlich ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn nicht zu beanstanden. Die Ausnahmeregelung für Jugendliche dagegen schon.

Ist der Gesetzentwurf der Großen Koalition zum Mindestlohn mit dem Grundgesetz vereinbar? Ja, lautet das Fazit von Ulrich Preis und Daniel Ulber, mit einer Ausnahme: Jugendliche vom Mindestlohn auszuschließen, wäre in der gegenwärtigen Fassung verfassungswidrig. Das geht aus einem Gutachten hervor, das der Geschäftsführende Direktor des Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht der Universität zu Köln und sein Forscherkollege für die Hans-Böckler-Stiftung erstellt haben.

Dass der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht gegenüber abhängig Beschäftigten auch durch die Schaffung zwingender Mindestarbeitsbedingungen nachkommen könne, habe das Bundesverfassungsgericht wiederholt bestätigt, schreiben die beiden Rechtswissenschaftler. Beispiele für solche Eingriffe seien Allgemeinverbindlicherklärungen oder tarifgestützte Mindestlöhne. Das Problem: Diese Instrumente gelten nur für einzelne Branchen und setzen einen bestehenden Tarifvertrag voraus. Mittlerweile gebe es jedoch immer mehr tariffreie Zonen. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn sei geeignet, die zunehmenden Schutzlücken zu schließen, und ergänze damit das bestehende System des Arbeitsrechts.

Die in Artikel 9 verankerte Tarifautonomie steht dem Mindestlohn nach Einschätzung der Gutachter nicht im Wege: Sie sei darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Beschäftigten beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen – und kein Grundrecht gegen Arbeitnehmerschutz. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits eine Vielzahl von Rechtfertigungsgründen für Eingriffe in die Tarifautonomie entwickelt. Mit der Vermeidung von Lohndumping, der Verringerung staatlicher Transferleistungen und der Stabilisierung des Sozialversicherungssystems verfolge der Gesetzentwurf legitime Ziele.

Zudem stelle der geplante Mindestlohn einen „schonenden, die Tarifautonomie eher fördernden denn belastenden“ Eingriff dar, so Preis und Ulber. Denn er setze nur dort an, wo die Sozialpartner aus eigener Kraft nicht mehr zur angemessenen Regulierung der Entgelte in der Lage sind. Wo es keinen Tarifvertrag gebe, könne es auch keinen Eingriff in die Tarifautonomie geben. Der Mindestlohn gebe gewissermaßen eine „gesetzlich fixierte Sittenwidrigkeitsgrenze“ vor, ansonsten blieben Tarifverträge unberührt. Die Rechtswissenschaftler gehen davon aus, dass die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems sogar gestärkt wird: Der Anreiz, einem Arbeitgeberverband fernzubleiben, dürfte sinken. Denn eine verbindliche Lohnuntergrenze begrenze den Wettbewerbsvorteil von Außenseitern gegenüber tarifgebundenen Betrieben.

Die von der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmen sind laut Preis und Ulber nur zum Teil mit dem Grundgesetz vereinbar. Um nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 zu verstoßen, bedürften Ausnahmeregelungen eines überzeugenden Sachgrunds. Den können die Gutachter zwar im Hinblick auf Azubis, ehrenamtlich Tätige und Praktikanten erkennen. Dass die Große Koalition Beschäftigte unter 18 Jahren vom Mindestlohn ausschließen will, halten sie hingegen in der gegenwärtigen Ausgestaltung für eine unzulässige Altersdiskriminierung – und damit für einen Verstoß gegen die Verfassung und europäisches Recht. Der Gedanke, man müsse einen Arbeitnehmer dadurch schützen, dass man ihn benachteiligt, sei ungeeignet und unverhältnismäßig. Schließlich gingen die meisten Jugendlichen, die unter den Anwendungsbereich der Regelung fielen, noch zur Schule. Diese Personen könnten daher überhaupt nicht von einer Ausbildung abgehalten werden. Wenn der Gesetzgeber finanzielle Anreize, zu arbeiten statt eine Ausbildung zu absolvieren, ausschließen wolle, müsste er konsequenterweise einen Höchstlohn für nicht ausgebildete Personen festlegen. Aber auch gegen eine solche Variante bestünden erkennbar verfassungsrechtliche Bedenken, so die Rechtwissenschaftler. Für unseriöse Arbeitgeber könne durch die geplante Regelung zudem ein Anreiz entstehen, einfache Tätigkeiten zu Niedriglöhnen an Minderjährige zu vergeben.

„Willkürlich“ Branchen-, Berufs- oder Arbeitnehmergruppen vom Mindestlohn auszunehmen, betrachten die Juristen als unvereinbar mit Grundgesetz – seien es Erntehelfer, andere Saisonbeschäftigte, Taxifahrer, Teilzeitbeschäftigte, Minijobber oder Rentner.

Zeitlich begrenzte Ausnahmen für Langzeitarbeitslose seien zwar insofern zu rechtfertigen, als sie der Wiedereingliederung ins Berufsleben dienen sollen. Allerdings berge die geplante Regelung die Gefahr von „Drehtüreffekten“: Unternehmen könnten Betroffene durch neue Langzeitarbeitslose ersetzen, sobald der Mindestlohn fällig wird.

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