„Rolle rückwärts zu Lasten der Kinder“

Im Sommer 2010 hatten sich die vier Bürgerschaftsfraktionen auf eine Abschaffung der Schullaufbahnempfehlung geeinigt. Stattdessen sollten die Eltern eine differenzierte Einschätzung zum Entwicklungsstand ihres Kindes erhalten. Die CDU führt nun die Gymnasialempfehlung wieder ein. Sie bricht damit aus dem schulpolitischen Konsens aus. Kritik gibt’s von allen Seiten.

Kritik kommt jetzt auch von der GAL und von der Elternkammer:

„Mit der zwingenden Ergänzung des Einschätzungsbogens um eine Gymnasialempfehlung torpediert Senator Wersich unseren wohlüberlegten Abwägungsprozess“, kritisiert Michael Gwosdz, der bildungspolitische Sprecher der GAL-Bürgerschaftsfraktion. „Die CDU macht eine Rolle rückwärts in Zeiten konservativer Bildungspolitik, als viele Kinder pauschal ausgesiebt und um ihre Chancen gebracht wurden. Die CDU bricht damit aus dem Konsens der Bürgerschaftsfraktionen und der Kammern aus. Wir waren uns einig, mit einer differenzierten Einschätzung das Elternwahlrecht zu unterstützen. Diesem sollte nicht durch eine Laufbahnempfehlung vorgegriffen werden.“

Mit Blick auf den künftigen Stellenwert der Stadtteilschule befürchtet Gwosdz: „Die Gymnasialempfehlung wird auch zu Lasten der Stadtteilschule wieder eingeführt. Es wird der Eindruck erweckt, dass sie eine Schule zweiter Klasse sei.“ Michael Gwosdz appelliert an die CDU, zu den eigenen Beschlüssen zu stehen, denn im Wahlprogramm schreibt die CDU: „Wir stehen für das Elternwahlrecht nach der 4. Klasse. Die Eltern werden bei ihrer Entscheidung durch eine differenzierte Einschätzung der abgebenden Schule unterstützt.“

Die Elternkammer kritisiert in einem aktuellen Beschluss, dass die Grundschulen im Unterschied zu den bisherigen Planungen (auf Basis der Vereinbarungen der vier Bürgerschafts-Fraktionen mit der Volksinitiative und unter Einbeziehung der drei schulischen Kammern zur 14. Schulgesetz-Novellierung) zur Abgabe einer Empfehlung zur weiteren Schullaufbahn verpflichtet werden,

An Gründen nennt die Kammer unter anderem

– eine Prognose für eine ganze Schullaufbahn (also über weitere 8 bis 9 Jahre) ist insbesondere bei denjenigen Schüler/-innen, die nicht eindeutig leistungsschwach oder leistungsstark sind, praktisch nicht möglich. Trotzdem werden per simples Ankreuzen scheinbar eindeutige Aussagen getroffen.

– Schüler/-innen werden infolgedessen weiter nach dem Muster „mit/ohne Gymnasialempfehlung“ abgestempelt und stigmatisiert.

– die nach zähen Verhandlungen im Herbst erzielte Vereinbarung aller Fraktionen mit der Volksinitiative und unter Einbeziehung der Kammern wird ohne Not gebrochen.

– die Verbindung von bewerteten Kompetenzen (sehr schwach bis sehr stark ausgeprägt) mit der sich unmittelbar anschließenden Empfehlung „Gymnasium“ oder „Stadtteilschule“ legt scheinbar den Schluss nahe, wer jeweils stark ausgeprägte Kompetenzen habe, würde für das (zuerst genannte) Gymnasium empfohlen, ansonsten für die Stadtteilschule. Das ist zum einen eine irrige Schlussfolgerung, weil manche der genannten Kompetenzen auch für den schulischen Erfolg auf einigen Stadtteilschulen dringend erforderlich sind (z.B. Selbständigkeit, Problemlösungskompetenz, Kommunikation) und nimmt zum anderen eine Priorisierung vor (Gymnasium als erste Wahl, Stadtteilschule als zweite). Der intendierten Gleichwertigkeit der beiden Schulformen wird damit ein Bärendienst erwiesen.

Das novellierte Schulgesetz schreibt das freie Elternwahlrecht bei der Anmeldung auf eine weiterführende Schulform fest. Wenn der Einschätzungsbogen somit in erster Linie den Eltern zur Orientierung in dieser Frage dienen soll, stellt sich die Frage, warum die Grundschulen den Sorgeberechtigten empfehlen sollen diesen bei der Anmeldung für die weiterführende Schule vorzulegen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Anmeldeschulen die Eltern faktisch verpflichten, den Empfehlungsbogen vorzulegen. Das Elternwahlrecht wird damit unterhöhlt, weil der Bogen zum Auswahl-Instrument der weiterführenden Schulen wird.

2 Gedanken zu „„Rolle rückwärts zu Lasten der Kinder““

  1. Die SPD und die CDU, ebenalls die FDP und die FW sind fuer eine Gymnasialempfehlung, leidiglich die GAL und die LINKE ist dagegen.

    Ties Rabe brachte es gestern im HA auf den Punkt:

    „….SPD-Schulpolitiker Ties Rabe nahm den erbitterten Streit – eine „Gespensterdiskussion“ – mit Humor. „Außerhalb dieses Raumes werden die meisten Menschen sagen: Worüber reden die eigentlich?“ Für den Lehrer Rabe ist der Fall klar: Eltern und Schüler wollen am Ende der Grundschule von den Lehrern wissen, welche Schulform sie für ihr Kind für geeignet halten. …“

    Dass die Gymnasialempfehlung – egal wie sie genant wird – gerade an Gymnasien in Problemmstadtteilen von besonderer Wichtigkeit ist, interessiert Ideologen nicht. Dass an den Gymnasien in Problemmstadtteilen die Anmeldequoten ohne Empfehlung besonders hoch sind, liegt zur grossen Teil daran, dass dort gerade Migranteneltern ohne Kenntis des deutschen Schulsystems ihre Kinder an die vermeindlich beste Schulform an – das Gymnasium – anmelden, auch wenn ihre Kinder in Kernfaechern wie Mathe eine Vier oder eine Fuenf haben.

    In Beratungsgespraechen zwischen den Schulleitungen der Gymnasien und den Eltern ist die formelle schriftliche Gymnasialempfehlung der Grundschule ein unverzichtbares Beratungsinstrument.
    Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass diesen Eltern auf Grund der Sprachschwierigkeiten ein reines „Beratungsgespraech“ nichts nuetzt, weil sie die Sprachnuancen und die Kernaussagen innerhalb von Hoeflichkeitsformulierungen nicht verstehen. Bei vielen fremden Mentalitaeten sind Migranteneltern auch nur bereit das zu akzeptieren, was schriftlich festgestellt worden ist.

    Wenn man auf die Emfpehlung verzichtet, richtet man an den Gymnasien in Problemmstadtteilen ungeheuren Schaden an.
    Ebenfalls beschaedigt man die dortigen Stadtteilschulen, weil sie dann eine unnoetige zusaetzliche Anzahl von abgemeldeten Schuelern nach der 6-ten Klasse aufnehmen muessen.

    Um mit dem Sprech der Ideologen zu formulieren: Mag eine fehlende Gymnasialempfehlung ein Kind bei der Zeugnisuebergabe einige Minuten beschaemen: die Beschaemung nach dem Scheitern derartiger Schuelern nach dem Abschulen nach der 6-ten Klasse – weil sie auf die falsche Schulform durch eine fehlende Empfehlung geschickt worden sind – ist ungleich groesser und auf jeden Fall nachhaltiger.

    Aber: tatsaechlich sind den Ideologen die Problemmstadtteile egal, das zeigt leider auch diese Diskussion. Wichtiger ist, dass man der eigenen Ideologie treu bleibt…

  2. Ach, Herr Rejmanowski, Sie lernen es vermutlich nie mehr: Nicht jeder, der anderer Meinung ist als Sie, muss deshalb gleich ideologisch verblendet sein.

    Eigentlich ist es doch ganz einfach: Ja, die Eltern sollen so viele Informationen über ihr Kind bekommen wie nur möglich, ja, die Grundschullehrer sollen sie bestmöglich beraten.

    Aber wenn das erfolgt ist, alle Fragen beantwortet sind, alle Prognosen gestellt, dann entscheiden die Eltern, und nur die. Das haben doch gerade Sie von WWL immer so hoch gelobt – nicht die (schlechte) Entscheidung der LehrerInnen sollte es sein, sondern die Eltern sollten entscheiden. Und jetzt gilt das für Wilhelmsburg nicht mehr?

    Stellen Sie es sich doch einfach vor, wie beim Arzt Ihres Vertrauens: Er stellt eine möglichst genaue Diagnose, er teilt sie Ihnen mit, er gibt Empfehlungen – das war’s. Ganz sicher darf er seine Feststellungen nicht einfach weitergeben!

    Genau das aber geschieht nach dem Wersich-Plan: Die weiterführenden Schulen verlangen entweder schon bei der Anmeldung die Prognose der Grundschule, oder sie sehen sie spätestens zu Schuljahresbeginn in der Schülerakte. Und dann ist das Kind erst einmal abgestempelt.

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