Morsal O.: Unglaubliche Ignoranz

„Nicht zuständig“, „weiß nicht“, „morgen“, „keine Ahnung“ – solche Antworten bekam ein engagierter Bürger im Norden Schleswig-Holsteins, als er sich um drei offensichtlich hilfsbedürftige Mädchen kümmern wollte. Eine von Ihnen war Morsal O.. Sie bekam keine Hilfe. Wenig später war sie tot.

Claus O. hat an jenem Abend ein Stück weit den Glauben verloren, dass Kinder und Jugendliche sich darauf verlassen können, in Notfällen Hilfe zu bekommen. Ganz sachlich und unaufgeregt schildert er in einem Brief, was er damals, Ende April, erlebt hat. HH-heute.de dokumentiert.

An den Herrn Landrat des Kreises Schleswig-Flensburg
Bogislav-Tessen von Gerlach
und an die Fraktionen des Kreistages

Sehr geehrter Herr Landrat,
sehr geehrte Damen und Herren des Kreistages!

Wie Sie sicherlich in den Medien verfolgt haben, wurde die Deutsch-Afghanin Morsal O. durch ihren Bruder in Hamburg getötet.

Morsal O. lebte bis zum 24. April in der Obhut eines Mädchenheims in der Nähe von Esgrus, das sich als besondere Einrichtung für misshandelte und missbrauchte Mädchen versteht. Sie besuchte eine Schule in Kappeln. Wegen besonderer Vorkommnisse am 24. April 2008 schreibe ich Ihnen.

An jenem Abend war ich von Kappeln auf der alten Landstraße unterwegs nach Flensburg. Gegen 21:30 Uhr nahm ich hinter Ulegraf drei Anhalterinnen mit, die zwei Reisetaschen dabei hatten. Auf meine Frage, was sie noch so spät machen würden, erzählten sie mir freimütig ihre Geschichten.

Sie wohnten in einem Heim und hatten nach einem Streit mit den Betreuern beschlossen wegzulaufen. Den Namen des Heims konnte ich nicht verstehen, maß dem aber zunächst keine so große Bedeutung zu. Das Trio wollte noch in der Nacht nach Hamburg. Eine der drei war Morsal O..

Ich habe sie dann zwar nach Flensburg mitgenommen, wollte sie aber nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und habe sie zu mir nach Haus eingeladen und sie mit meiner Familie bekannt gemacht.

Im Gespräch äußerte sich Morsal freimütig über ihre Motive zur Flucht und über ihre Familienverhältnisse. So sagte sie, dass ihre Mutter wegen einer Krebserkrankung im Krankenhaus in Hamburg liege und sie sie besuchen müsse. Sie führte ein Handy bei sich, von dem sie häufig Gebrauch machte.

Sie schilderte weiter, dass ihre Familie sie ein Jahr zuvor aus der Schule genommen und nach Afghanistan geschickt hätte, um sie dort zwangsweise zu verheiraten. Sie habe sich dem aber widersetzen können. Außerdem sagte sie, dass sie in Hamburg nicht auf ihren Vater treffen dürfe. Sie sagte wörtlich: „Der schlägt mich sonst tot“.

Ich habe dann versucht, die Mädchen von ihrem Vorhaben abzubringen. Da die drei offenkundig minderjährig waren und mir hilfsbedürftig erschienen, habe ich noch am Abend versucht, einen Kontakt mit dem Kinder- und Jugenddienst (KJND) aufzunehmen. Die Hamburger Nummer war im Internet leicht zu finden. Dort sagte man mir aber, dass man sich erst am nächsten Morgen ab 8:00 Uhr zuständig fühle, wenn die Mädchen tatsächlich in Hamburg auftauchen sollten.

Auf Nachfrage hin konnte mir der Mitarbeiter des Hamburger Jugendamtes keine Telefonnummer und keinen Ansprechpartner des Kreises Schleswig-Flensburg nennen. Immerhin erhielt ich die Nummer des Flensburger Notdienstes. Dort fühlte man sich ebenfalls nicht zuständig, sondern verwies auf den Notdienst des Kreises Schleswig – Flensburg, weil es sich offensichtlich um eine Einrichtung handelte, die im Kreisgebiet angesiedelt ist. Die Nummer dieser Dienststelle konnte mir der zuständige Mitarbeiter aber ebenfalls nicht nennen.

Ich rief dann bei der Leitstelle der Polizei in Schleswig an. Auch dort konnte mir niemand die entsprechende Nummer geben. Erst die Feuerwehrleitstelle versprach, einen zuständigen Mitarbeiter der Kreisverwaltung anzupiepen, der dann zurückrufen werde. Bei mir ging dann tatsächlich ein Anruf von einem Handy-Anschluss ein. Der Anrufer stellte sich als Sozialpädagoge und Mitarbeiter des Kreises Schleswig – Flensburg vor. Nachdem ich ihm die Situation geschildert hatte, bat er mich, mit einem der Mädchen sprechen zu können. Sie sollten ihm den Namen der Einrichtung nennen. Er hat dann mit Morsal O. unter vier Augen telefoniert.

Mittlerweile war über eine Stunde vergangen. Später sagte er mir in einem weiteren Telefongespräch, dass er eine vorübergehende Unterbringung im Havetofter Elisabeth-Heim organisieren könne, wenn die Mädchen es wünschten. Die drei lehnten jedoch ab. Von ihm erfuhr ich auch, dass bisher noch keine Vermisstenmeldung eingegangen war und dass er versucht habe, von Morsal den Namen der entsprechenden Einrichtung zu erhalten. Das war ihm aber nicht gelungen.

Nun bemühte ich mich vorsichtig, den Namen der Einrichtung zu erfahren. Sie sagten mir einen englisch klingenden Namen, der, wie sich erst später herausstellte, Ähnlichkeiten mit dem tatsächlichen Namen der Einrichtung hatte, aber für mich unverständlich war. Die Mädchen wussten offenkundig nichts mit dem Namen der Einrichtung anzufangen, in der sie wohnten. Zu diesem Zeitpunkt war mir also auch nicht bekannt, dass es sich um eine besondere Einrichtung handelt.

Nachdem alle Bemühungen meinerseits gescheitert waren, die Mädchen von ihrem Vorhaben abzubringen, meinte Morsal, sie habe jetzt mit ihrem Onkel telefoniert, der bereit sei, die Mädchen vom Flensburger Bahnhof abzuholen. Also habe ich die Mädchen dorthin gefahren. Dort sagte sie mir dann aber, dass der Onkel mit seinem Auto nicht fahren könne, weil es nicht angesprungen sei. Ein weiterer telefonischer Kontakt war dann nicht mehr möglich, weil der Onkel sein Handy abgeschaltet hatte. Daraufhin entschloss sich das Trio, zum Flensburger ZOB zu fahren, um von dort per Anhalter weiterzukommen. Zum Schluss sagte Morsal noch: „Ich muss zu meiner Mutter!“.

Erst nachträglich gegen 00.30 Uhr habe ich eine Mitarbeiterin der Einrichtung erreichen können. Sie wollte sich um die Sache kümmern.

Aus den oben geschilderten Vorgängen ergeben sich für mich einige Fragen:

1) Wieso ist der Kinder- und Jugendnotdienst des Kreises Schleswig-Flensburg nicht telefonisch erreichbar?

2) Warum gibt es auf den Seiten des Kreises im Internet keinen Verweis auf den KJND?

3) Warum gibt es außerhalb der Dienstzeiten keine Mitarbeiterinnen des KJND, die als Ansprechpartnerinnen einfühlsam mit Mädchen reden können?

4) Wieso führt ein Heim als deutsche Gesellschaft mit beschränkter Haftung einen englischen Namen, der im Notfall nicht richtig verstanden werden kann und im Internet nicht zu googlen ist?

Abschließend möchte ich betonen, dass einzelne Personen meiner Meinung nach keine Schuld an den Ereignissen trifft. Sie haben sich im Rahmen ihrer Kompetenzen bemüht. Doch sollten Sie sich überlegen, wie die Arbeit in diesem sensiblen Bereich besser organisiert werden kann.

3 Gedanken zu „Morsal O.: Unglaubliche Ignoranz“

  1. Ein einziges Trauerspiel. Aus Hamburger Sicht interessiert besonders das wiederum skandalöse Verhalten des KJND: „Nicht zuständig“ gehört wohl zu den dümmsten Antworten, wenn es um das Wohl von Minderjährigen geht.

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