„Hier wird Verantwortung konkret“

70 Jahre nach Auschwitz werden Juden in Europa angegriffen und ermordet, weil sie Juden sind. Wir dürfen das nicht als Normalität hinnehmen, fordert Sigmar Gabriel in der „Frankfurter Rundschau“.

Politik und Gesellschaft müssten entschlossen gegen jedweden Antisemitismus kämpfen. „Denn ohne die jüdischen Europäer wäre Europa nicht mehr Europa.“

Heute vor 70 Jahren befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz. Sie fanden einen Ort vor, der in seinem unerträglichen Grauen zum Tatort und Symbol eines Menschheitsverbrechens wurde. Einen Ort, an dem von den fast sechs Millionen Opfern des Holocaust über eine Million Menschen in einem industriell organisierten Massenmord umgebracht wurden. Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer aus ganz Europa wurden vergast und erschossen. Sie starben an Seuchen und Hunger, an den Folgen von Menschenversuchen, Misshandlungen und Sklavenarbeit. Sie alle wurden Opfer eines monströsen Verbrechens – erdacht, organisiert und ausgeführt im deutschen Namen. Auschwitz markiert den „absoluten Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte“, wie es die Überlebende Renate Lasker-Harpprecht beschrieben hat.

Auch 70 Jahre später ist Auschwitz ein Ort, den der Schrecken nicht verlassen hat. Wer ihn besucht, wird ihn nie vergessen und seine Wirkung kaum in Worte fassen können. Wer in Auschwitz vor der Ausstellung unzähliger Kinderschuhe steht und den Gedanken zulässt, der sich damit verbindet, wird die Menschheit mit anderen Augen sehen. Wer im Gespräch mit Überlebenden das Erlebte aus Auschwitz und anderen Vernichtungslagern hört, wird von der Erinnerung und der Verantwortung nie wieder losgelassen werden. Das Grauen, der Schmerz und das Leid der Opfer von Auschwitz wird keine Zeit heilen. Mehr als 1,5 Millionen meist junge Menschen jährlich machen diese Erfahrung in der Gedenkstätte Auschwitz und nehmen sie mit in die ganze Welt.

Auschwitz, die Überlebenden und die Erinnerung

Diese Verantwortung wird umso größer, je weniger Überlebende von Auschwitz als Zeitzeugen selbst berichten können. Mit ihrer Größe, ihre eigene so verwundete Biografie ohne Hass auch den Nachfahren der Täter zur Verfügung zu stellen für eine bessere Zukunft, haben sie eine einmalige menschliche Leistung erbracht. Hier liegt unsere Pflicht als nachlebende Generationen: Das Gedenken an die Vergangenheit, aber auch die Konsequenzen von Auschwitz für die Zukunft weiterzutragen und sie vor dem Vergessen, der Routine und der Gleichgültigkeit, oder sogar dem Überdruss zu bewahren.

Denn wer dem Vermächtnis der Opfer und Überlebenden gerecht werden will, darf bei der Suche nach den Tätern nicht beim Sadismus der KZ-Aufseher oder der Dämonie Adolf Hitlers stehenbleiben. Die Lehre von Auschwitz besteht nicht nur im Schrecken vor dem Monströsen, sondern im Schrecken vor dem vermeintlich Normalen.

Vor den SS-Mannschaften, deren Arbeitstag in der Ermordung von Menschen bestand, um nach Dienstschluss hingebungsvoll mit den eigenen Kindern im Garten zu spielen. Vor der Banalität des Bösen, die Hannah Arendt beschrieben hat, mit der die Technokraten des Todes mit Ehrgeiz und Eigeninitiative die immer effizientere Verwaltung des Massenmordes im industriellen Maßstab organsierten. Vor der Indifferenz und viel zu oft der Zustimmung, mit der es hingenommen wurde, dass die jüdischen Nachbarn, Kollegen oder Vereinskameraden diskriminiert, entrechtet und gedemütigt wurden, um später zu Hundertausenden aus den Städten Europas deportiert zu werden. Hier begann der Weg, der in die Gaskammern von Auschwitz führen sollte.

Wieder bedroht: Europas Juden

70 Jahre nach der Befreiung müssen wir erkennen, dass der moralische Imperativ des „Nie wieder!“ noch längst keine Gültigkeit hat. Der Judenhass in Europa hat sich verändert, vergangen ist er nicht. Neben nationalsozialistischem Rassenwahn ist zunehmend islamistische Hass-Ideologie und die Übertragung von Feindbildern aus dem Nahostkonflikt die Basis für Antisemitismus geworden. Jüdische Bürger und Einrichtungen werden wieder Opfer von Anfeindungen und Gewalt. Pöbeleien, Drohungen und tätliche Angriffe gegen Menschen, die sich offen zu ihrem jüdischen Glauben bekennen, sind auch in Deutschland nicht mehr selten. Bei Demonstrationen im vergangenen Jahr wurden auf deutschen Straßen offen antisemitische Hassparolen gebrüllt.

Jüdisches Leben findet in Europa mittlerweile in erschreckendem Maße unter dem bewaffneten Schutz von Polizei und Militär statt. Unlängst mussten die jüdischen Schulen Belgiens aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Gleichzeitig steigt die Zahl der jüdischen Auswanderer aus Europa dramatisch an: Tausende verlassen ihre Geburtsländer, die ihren Familien über Jahrhunderte Heimat gewesen und trotz Auschwitz geblieben sind. Sie gehen diesen schweren Schritt, weil sie sich nicht mehr sicher noch willkommen fühlen. Dieser Abschied muss uns zutiefst alarmieren.

Aber wahr ist: 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende des Holocaust werden in Europa wieder Juden getötet, weil sie Juden sind. Der jüngste Anschlag auf den koscheren Supermarkt von Paris folgte dem Attentat im jüdischen Museum von Brüssel und dem Angriff auf die jüdische Schule in Toulouse.

Hier wird die Verantwortung konkret: Das „Je suis juif!“, dem sich bei der historischen Demonstration in Paris und der Mahnwache in Berlin so viele Christen, Muslime und nichtgläubige Menschen anschlossen, muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis. Es muss die Sicherheit und Unversehrtheit jüdischen Lebens und den Kampf gegen jede Form des Antisemitismus bedeuten. Mehr denn je muss aber auch politische und gesellschaftliche Solidarität bedeuten: Niemals wird es wieder gelingen, das Judentum aus unserer Mitte zu drängen. Denn ohne die jüdischen Europäer wäre Europa nicht mehr Europa.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 27. Januar 2015 in der „Frankfurter Rundschau“.

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